von Christine Felsinger/GWP
Professor Ellen Kienzle, stellvertretende GWP-Vorsitzende, lehrt Tierernährung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie ist eine der renommiertesten Pferdefütterungs-Expertinnen und setzt sich seit Jahrzehnten dafür ein, dass mehr Wissen aus der Forschung in Pferdeställe und Reithallen gelangt. Ungeprüfte Mythen und Märchen zu Ernährung und Training von Pferden sind ihr ebenso ein Gräuel wie die Flut gutgläubig gekaufter Produkte, die sich in Tröge und Sattelkammern ergießt. Ihre Gegenmittel: gesunder Menschenverstand und wissenschaftliche Wirknachweise.
„Die Pferdeforschung ist doch in allererster Linie für das Pferd da“, findet Ellen Kienzle. „Das Gute daran ist, dass wir die Empfehlungen, was man mit Pferden machen und unterlassen soll, heute auf eine solide Wissensbasis stellen können. Viele wichtige Punkte kann man sehr viel besser durchsetzen, wenn sie auf wissenschaftlicher Basis begründbar sind.“
Kritischer Blick auf Trainingsmethoden wie die Rollkur
Wichtig ist der Futter-Forscherin der umfassende Gesundheits- und Tierschutz-Aspekt. Als Schülerin des legendären deutschen Reitmeisters Egon von Neindorff hat Ellen Kienzle nämlich auch auf Trainingsmethoden ein wachsames Auge: „Es ist aber schon etwas anders, ob ich sage: ‚Die Rollkur finde ich einfach gruselig‘ oder sachlich argumentiere: ‚Beim Reiten in Hyperflexion sehen die Pferde nichts, und ihre Luftwege werden verengt.'“
Fakten, Fakten, Fakten, fordert Kienzle, denn nur das führt langfristig dazu, dass Fehler im Umgang mit dem Pferd vermieden werden.
Da zählen dann nicht Emotionen und Empirie nach dem Motto ‚Das haben wir schon immer so gemacht‘, sondern es gibt klare Ansagen, warum etwas gemacht werden soll.
Denn überlieferte Traditionen sind schön und gut – aber sie müssen modernen Forschungsmethoden standhalten. Das gilt erst recht für neue Modeerscheinungen. Ob eine Trainingsmethode gesundheitlich unbedenklich ist oder nicht, lässt sich durch biomechanische Überlegungen, Modelle und Messungen überprüfen. Und das Prüf-Ergebnis muss dann auch in die Köpfe der Reiter gelangen, so Kienzle: „Der Ausbilder muss dem Schüler erklären können, warum er was tun soll.“
Das geduldige Erklären kam in den guten alten Reit-Zeiten häufig zu kurz, hat Ellen Kienzle selbst erlebt. „Früher hieß es zu oft: ‚Man reitet mit dem Hintern, nicht mit dem Kopf.‘ Und nicht alles, was sich alt und klassisch nennt, ist auch heute noch richtig.“ Paradebeispiel ist für Ellen Kienzle das dauernde Reiten ohne Bügel. „Das klappte früher, denn da waren die meisten Reitschüler durchtrainierte junge Männer, die auf relativ unempfindlichen Pferden mit mittlerem Gehvermögen saßen. Heute sind die meisten Reitschüler Frauen, die Sitzberufe ausüben und oft auf empfindlichen Pferden mit großen Bewegungen sitzen. Deshalb kann man das nicht einfach auf heutige Verhältnisse übertragen.“
Luzerne und Hafer: Stallmeisters Modefutter neu erforscht
Umgekehrt gibt es vieles, was früher schon einmal en vogue war und heute wieder: „Nehmen Sie nur die Luzerne, die man jetzt wieder entdeckt hat als Pferdefutter. Oder den guten alten Hafer, der heute längst nicht mehr so verteufelt wird wie noch vor 20 Jahren, als alle Angst davor hatten.“
Damit die Pferde von der Pferdeforschung profitieren, muss sie freilich erst einmal die Reiter, Pferdehalter und Produzenten erreichen; egal Laie oder Profi von Ausbilder bis Züchter, Freizeit-Pferdeliebhaber oder Turnierreiter, Stallbetreiber oder Futterhersteller. „All diesen Gruppen nutzt die Pferdeforschung“, ist Kienzle überzeugt, die deshalb am liebsten praxisnahe Fragestellungen erforscht. Die ergeben sich meist direkt aus dem Alltag der Futterberatung.
Forschungs-Fund: Viele Cushing-Pferde sind dem Verhungern nahe
So haben die Münchner Pferde-Ernährungswissenschaftler 2016 eine verblüffende Beobachtung gemacht: Viele Besitzer von Pferden, die unter Cushing leiden, lassen ihre Pferde fast verhungern – vor lauter Angst, eine Hufrehe zu verursachen. „Das hat uns in der Praxis echt verblüfft“, erinnert sich Kienzle, die aber auch theorielastige Themen wie die Energiebewertung im Fokus hat. Stichwort: Wieviel Kalorien sind im Futter?
Bahnbrechend war für die Futter-Professorin aus München die Forschung zum Equinen Metabolischen Syndrom (EMS) aus der Arbeitsgruppe des verstorbenen Forschers David Kronfeld. Auch sonst hat sich ungeheuer viel bewegt, findet sie:
Schauen Sie sich die Versorgungsempfehlungen der Gesellschaft für Ernährungsphysiologie für Pferde von 1994 und von 2014 an. Der Wissenszuwachs ist enorm.
Wo sieht Ellen Kienzle durch Studien das tradierte Futterwissen über Pferde bestätigt, wo revidiert? „Eigentlich finde ich es fast überall bestätigt. Einzige Ausnahme ist vielleicht die Raufutterversorgung. Da wurde früher viel weniger empfohlen, die Untergrenze richtete sich eher nach der Verdauungsphysiologie als nach der Befriedigung des Kaubedürfnisses des Pferdes. Dafür gab es aber gute Gründe, etwa die militärische Logistik oder auch lange Arbeitszeiten mit entsprechend kürzerer Fresszeit.“
Auch das Auftreten von Lungenerkrankungen wurde früher mit Fütterung von viel Heu in Verbindung gebracht – und hier schließt sich der Kreis wieder: Das ist wie wir heute wissen nur zutreffend, wenn die hygienische Heuqualität nicht gut ist. Ein Problem, das es leider auch heute noch viel zu oft gibt.“
Ein modernes Problem ist freilich nicht nur die Menge an Schimmelpilzen im Heu, sondern auch die Fülle an vermeintlichen Fakten, die eher Halbwahrheiten oder Märchen sind. „Für Laien ist es mittlerweile kaum noch möglich, sich über irgendeinen Sachverhalt gut zu informieren. Fachzeitschriften widersprechen sich oft selber von einer Seite zur nächsten“, beobachtet Ellen Kienzle.
Das Internet überschüttet uns mit Informationen, deren Wert und Wahrheitsgehalt umso schwieriger zu beurteilen ist, je weiter man sich von seiner eigenen Kernkompetenz entfernt.
Die GWP vermittelt Experten gegen gefährliches Halbwissen
Dadurch entsteht leicht ein gefährliches Halbwissen, warnt Kienzle. „Man kann nicht mehr einordnen, wo man die Priorität seines Handelns setzen muss.“ Hier kann die GWP helfen, indem sie unabhängige Experten vermittelt. Aber auch der unmittelbare Wissenstransfer ist für die stellvertretende GWP-Vorsitzende eine Kernaufgabe der Gesellschaft zur Förderung rund um das Pferd.
Seit mehr als einem Jahrzehnt kommen viele Pferdehalter, Pferdeprofis, sogar Tierärzte regelmäßig zu den GWP-Vorträgen, die Ellen Kienzle mit Gästen aus der Wissenschaft an der Uni München veranstaltet. Viele Teilnehmer schätzen an diesen Veranstaltungen besonders, dass am Ende unbegrenzt Fragen gestellt werden dürfen.
Was ist es noch, das die Umsetzung von Pferdewissen in die Praxis verhindert? „Wie immer geht es auch um allzu menschliche Eigenschaften wie Faulheit, Eitelkeit, Angst, Zorn, Geiz oder auch Geldmangel“, konstatert Kienzle.
Manche Pferdehalter wollen oder können einfach nicht so viel Geld ausgeben oder Zeit aufwenden, wie es für eine optimale Pferdehaltung nötig wäre.
Das Thema Geld ist ein neuralgischer Punkt auch für die Pferdeforschung, denn die steht, anders als etwa in USA, finanziell deutlich bescheidener da. Zumindest gehen die Forschungsthemen nicht aus – erst recht nicht bei Ellen Kienzle. Viel zu viele Aspekte der Pferdefütterung würde sie gerne näher ergründen, und wäre sie nicht Futter-Professorin geworden, dann hätte die Biomechanik bei Pferd und Reiter sie in ihren Bann gezogen.
„Ungeheuer attraktiv“ findet Kienzle außerdem das Verhalten der Pferde und die Psychologie der Reiter. „Dazu hatte ich sogar schon eine Kooperation mit einem Psychologen. Und als Studentin habe ich ein Praktikum in der Pathologie gemacht, das fand ich auch sehr spannend.“
Über das GWP-Vorstandsmitglied
Professor Dr. med. vet. Ellen Kienzle hat den Lehrstuhl für Tierernährung und Diätetik an der Tierärztlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München inne. Sie studierte Tiermedizin in Hannover, war unter anderem Präsidentin der European Society of Veterinary and Comparative Nutrition, ist Herausgeberin beim „Journal of Animal Physiology and Animal Nutrition“ und Mitglied in diversen Fachgremien der Tierernährung. Der GWP bzw. der mit dieser fusionierten GFP gehört sie seit 2005 an und organisiert an der Uni München regelmäßig Vorträge zur Pferdefütterung und Pferdehaltung, etwa zu Themen wie Hufrehe oder Heuqualität. Ellen Kienzle ist Reiterin und Pferdehalterin; sie nahm unter anderem bei Reitmeister Egon von Neindorff am Karlsruher Reitinstitut langjährig regelmäßig Unterricht.
Kontakt: kienzle@tiph.vetmed.uni-muenchen.de
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